Versuch, Handke zu begreifen. Eine Herleitung. Die Reise an die Drina und zu Milosevic begann schon viel früher.

In den Debatten um die Verleihung des Nobel Preises an Peter Handke haben insbesondere dessen Jünger vom Beginn der Polemiken an ein Ausrufezeichen gesetzt: Man müsse Handke nur lesen!

„Hören Sie mich an.“ Dieser Satz aus Peter Handkes Buch „Langsame Heimkehr“ von 1979 war wenigstens für mich der titelgebende Schlüssel, als ich 1984 einen ausführlichen Aufsatz über Peter Handke für einem Sammelband schrieb, der dann 1985 auch erschienen ist.

Die in „Langsame Heimkehr“ ausführlich und emphatisch geschilderte Reise einer Findung markierte nämlich, wenigstens literarisch, den Wandel von Peter Handkes Kritik und Abarbeitung an der ‚Sprache‘ (zB „Hornissen“, „Kaspar“) hin zur Suche und dem Aufbau einer neuen Identität. Diese Verwandlung ging bemerkenswert bruchlos vonstatten, weil der Abbruch der alten Ordnung in der Sprachkritik gut aufgenommen werden konnte im neuen Ziel des ‚Findens‘, das seither Handkes Werk ausrichtet.

Im Aufsatz von 1985 schrieb ich dazu:

So beginnt Sorgers Heimkehr mit dem Satz: ‚Sorger hatte schon einige ihm nah gekommene Menschen überlebt und empfand keine Sehnsucht mehr (etwa nach Zukunft; Anm. R. W.), doch oft eine selbstlose Daseinslust (die Lust auf die gleichbleibende, unveränderliche Gegenwart; Anm. R. W.).‘ Konsequent und unaufhaltsam errichtet sich Sorger eine magische Welt, in deren Mittelpunkt er selbst steht, und die allein auf ihn ausgerichtet ist: ‚Er ahnt die Möglichkeit eines ganz erschienenen Darstellungsschemas der Zeitverläufe in den Landschaftsformen und sah sich, verschmitzt und schmunzelnd wie seit jeher die Umdenker (das war ihm auf all ihren Photographien aufgefallen), der Welt seinen eigenen Schwindel unterschieben.‘

Der Kreis löst nun die Gerade ab. ‚Alldurchsichtigkeit‘ ersetzt die Kausalität.25 Aus der Wirklichkeit springt die ‚Welt‘. Wer jedoch jene ‚Welt‘ erkannt hat und dann auch noch zurückkehrt in das ‚phantasielose, blutsaugerische Elend‘, der hat – für sich – wohl auch das Problem der Sprache gelöst. Sein Sagen ist appellativ, sein Vokabular das der Beschwörung: ‚Hören Sie mich an.” Und: “Ich sehe mich in der Mitte der Menge gehen und glaube, gerecht zu sein.‘

Es ist nur folgerichtig, argumentierte ich damals, Hugo von Hofmannsthals Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ von 1927 zitierend, dass diese Findung bei Handke angesichts der „angestrebten Umwertung der Wirklichkeit“ wie schon bei Hofmannsthal, ein „eminent politischer Vorgang“ sei, der auf die „Nation“ ziele: „Die Aufgabe des prophetischen Dichters ist es, diese andere Wirklichkeit herzustellen.“ (Meine Schlussfolgerung von 1984/85)

Tatsächlich hat Handke dies in seinen Werken in den unmittelbar folgenden Jahren in dem „dramatische(n) Gedicht“ „Über die Dörfer“ (1981) und in dem für mich immer noch unverständlich schlechten, weil so hölzern thesenhaften Roman „Der Chinese des Schmerzes“ (1983) genau so ausgeführt.

Im Roman erschlägt der betuliche Erzähler einen Hakenkreuzschmierer in der Nacht im Wald, wie in einem Amoklauf, nach einem wilden Crescendo düster dramatischer Szenen inmitten banalstem gegenwärtigem Salzburger Gegenwartsalltag, jedoch unter Berufung auf ein höheres „Gesetz“ und andere hoch tönende Begriffe, welche dann gegen Schluss in Sätze münden wie:

„Danach das gemeinsame Ansehen der Fernsehnachrichten, und am Ende der Ausruf: ‚Aber irgendeine Unsterblichkeit muß doch immer noch möglich sein!‘“ (S. 240)

Natürlich, argumentierte ich bereits 1984/85, sei dies reinster mythologisch verbrämter Kitsch, der jedoch auf Höheres ziele.

Von heute aus aber, nach den Jugoslawienkriegen und nach Handkes späteren politischen Einlassungen dazu, lassen sich einige prekäre Verbindungslinien ins Folgende zeichnen.

Damals, um die Mitte der 1980er Jahre, als von außen betrachtet Jugoslawien noch weitgehend stabil aussah und weder die Zeitenwende von 1989 noch die balkanischen Zerfallskriege von 1992 bis 1995 absehbar waren, erschien mein textkritischer Verweis auf Hofmannsthal, die „Nation“ und den „prophetischen Dichter“ als eine gewiss etwas gewagte Konstruktion. Aber ich war aufgeschreckt von den mir unschön vertrauten poetischen Figuren!

Ich wusste damals schon gar nicht, dass gerade eben, in diesen Jahren, in einer „Akademie der Wissenschaften“ in Belgrad, damals noch unangefochtene Hauptstadt in Jugoslawien, in gewiss hitzigen Debatten ein „Memorandum zur Lage der serbischen Nation“ geschrieben wurde, das nur wenige Jahre später die ideologische Blaupause für Krieg, „ethnische Säuberungen“  und Genozid in einem Land münden sollte, das nur wenige Kilometer südlich meiner Heimatstadt Graz lag, und in dem ich als Kind und Jugendlicher meine ersten großen Reisen in die „Fremde“ erlebt hatte.

Die Konstellation erscheint auch jetzt noch, da ich dies einmal mehr memoriere und aufschreibe, umso absurder, als die Lektüre von Peter Handke für mich selbstverständliche Wegmarken meiner literarischen Sozialisierung definierte:

  • 1972: Handke: Wunschloses Unglück;
  • 1974: Mein Abitur („Matura“ in Österreich), Wahlfach deutsche Literatur;
  • 1975: Handke: Die Stunde der wahren Empfindung.

Und so fort.

Ich war freilich nie Handke „Fan“. Vielmehr stand Handke für jene andere, durchaus nahe, jedoch entgegengesetzte Strategie, auf die Welt zuzugehen und diese zu sortieren. Aber Handke war eine klare Wegmarke und Referenz, gut tauglich zur eigenen Orientierung.

Im Februar 1992, zwei Wochen vor Ausbruch des Bosnien Krieges, war ich für eine ausführliche Radio-Reportage in Sarajewo, und interviewte unter vielen anderen sowohl Staatspräsident Alija Izetbegovic wie auch den damaligen Führer der Serben-Fraktion im bosnischen Parlament, Radovan Karadzic, im klaren Bewusstsein, dass der Kriegsausbruch unmittelbar bevorstand. Die Aufarbeitung durch den Internationalen Gerichtshof in den Haag hat hier die für mich gültigen Urteile und Einschätzungen vorgenommen. Ich war auch seither immer wieder in Sarajewo und vielen anderen Orten Ex-Jugoslawiens.

Peter Handkes Slowenienbuch „Die Wiederholung“ (1986) hatte ich mit Begeisterung und Erleichterung (nach dem „Chinesen“) gelesen, ebenso wie seine wunderbare Übersetzung aus dem Slowenischen (mit Helga Mracnikar, 1981) des „Zögling Tjaz“ von Florian Lipus, den ich 1983 interviewt hatte.

In den Jahren dazwischen, bis zur „winterliche(n) Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ (1996), erschienen nur ein Jahr nach dem Abkommen von Dayton 1995, das den Jugoslawien-Zerfalls- oder Sezessions-Krieg mit einem förmlichen Friedensvertrag beendete, muss Peter Handke als Person und Autor einen komplexen, vermutlich hoch widersprüchlichen Prozess durchlebt haben, über den ich an dieser Stelle allerdings nicht spekulieren will.

Für diesen Beitrag hier war mein Ziel eine Herleitung.

Original:
PeterHandke. Die Arbeit am Glück. Hg. v. Gerhard Melzer und Jale Tükel, Athenäum, 1985.

Mein Beitrag von 1985: “Hören Sie mich an” > Download:

Peter_Handke_Die Arbeit_am Glück_athenäum_1985_Wischenbart_Ueber_die_Beschwoerung_der_Ordnung_p45ff_opt

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