Und dann? Das Gesetz der Serie. Neues Story-Telling in alten Medien – Durchbruch neuer Medienkonzerne – Industrialisierung des Schreibens.

***On serial story telling in streaming TV. English translation here***

Wo beginnen? Am besten wohl in der bewĂ€hrten Volte der GeschichtenerzĂ€hler mit einem Überraschungscoup aus Tod und Wiedergeburt.

  1. Fernsehen neu? Wie langweilig!

„Wie langweilig!“, hĂ€tte ich noch vor wenigen Jahren ausgerufen, wenn vom Medium Fernsehen die Rede gewesen wĂ€re, um zu berichten, wie digitales ErzĂ€hlen gleich die gesamte Medienindustrie aufmischt. Denn seit bald zwei Jahrzehnten wurde immer wieder von den ‚Konvergenzen‘ aus Fernsehen und Internet geraunt. In einer der ersten Virtualienmarkt Kolumnen hatte ich den damaligen Bertelsmann-Boss Thomas Middelhoff zitiert, der von Verwertungen von Inhalten ĂŒber alle Formate und KanĂ€le hinweg trĂ€umte, im globalen Dorf. Doch dieses Zusammenwachsen, immer wieder ausgerufen, fand niemals statt.

Bis ausgerechnet aus jener Ecke, die am wenigsten nach Umbruch roch, plötzlich von neuartigem ErzĂ€hlen, spannenden Geschichten und tollem Handwerk zu hören war: Aus amerikanischen Kabel-Netzwerken. Mit „Sex in the City“ (ab 1998), den Mafia-Clan-Episoden von „The Sopranos“ (ab 1999), oder der Krimi Serie „The Wire“ aus Baltimore (ab 2002) legte der QualitĂ€tskanal HBO die Fundamente fĂŒr einen neuen Blick auf das Fernsehen. SpĂ€testens mit dem Fantasy Epos „Game of Thrones“ (ab 2011), nach den Romanen von George R.R. Martin, ist dieser Zugang zum neuen Standard fĂŒr Story Telling in Massenmedien geworden.

Der entscheidende Akzent dabei: Dieses ‚neue‘ Fernsehen wird ĂŒberwiegend digital, ĂŒber das Internet im Streaming Verfahren vertrieben und ĂŒber Abonnements abgerechnet. Es kann auf TV GerĂ€ten, aber ebenso auf Computern und Tablets konsumiert werden. Der vermutlich wichtigste Treiber des ‚neuen Fernsehens‘ ist aber ein ganz anderes GerĂ€t, das Smartphone.

Konsumenten können frei nach Laune und LebensumstĂ€nden entscheiden, wann sie welche Inhalte abrufen. Diese TV Inhalte, allem voran TV Serien, sind der Treiber einer fundamentalen Verlagerung weg vom linearen Fernsehen, wo ein Sender am Ende einer langen wie exklusiven Wertschöpfungskette bestimmen konnte, wann eine Geschichte empfangen werden kann. Die neue Welt ist umgekehrt. Hier entscheiden nun die Konsumenten (aber, wie wir sehen werden, auch einige neue Netzwerk-Konzerne): Jetzt will ich, und kann, wo auch immer ich bin, online, offline, zu Hause oder unterwegs, aber hallo!, mir die verpassten Episoden von „Game of Thrones“ reinziehen.  DafĂŒr aber bezahle ich einen regelmĂ€ĂŸigen Beitrag.

Im Herbst 2017 konstatierte der amerikanisch-britische Jugendbuchautor und TV Produzent Jeff Norton rundheraus: „TV is now the dominant medium of culture.“

  1. Weshalb Serien?

Als ich mitten im dritten Band der schwedischen Millennium Krimi-Serie von Stieg Larsson (1954 – 2004) steckte, war ich mir nicht nur sicher, dass das reale Vorbild fĂŒr den Journalisten Mikael Blomkvist nur ein bestimmter schwedischer Freund von mir namens Lasse sein konnte, der natĂŒrlich ebenfalls Journalist ist. Ich ertappte mich auch eines Tages, am Weg in mein Wiener Stamm-Kaffeehaus, dass ich geradezu fix erwartete dort auf Mikael Blomkvist zu treffen. Und nach spĂ€testens einer halben Staffel „Breaking Bad“, auch hiervon bin ich ĂŒberzeugt, haben die meisten ihren engeren Freundes- und Bekanntenkreis den wichtigsten Figuren der Serie zugeordnet.

Der Trick der Identifikation ist natĂŒrlich ein literaturgeschichtlich alter Hut. HonorĂ© de Balzac (1799 – 1850) nannte seine große Romanserie „Die menschliche Komödie“, um die AllgemeingĂŒltigkeit der ErzĂ€hlung zu verdeutlichen. Marcel Proust (1871 – 1922) begab sich auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“, bis jede Leserin den Moment des Einhaltens ĂŒber der Tasse Tee mit dem Madeleine KĂŒchlein zu ihrem ganz persönlichen Erleben machte.

Das amerikanische Balzac-GegenstĂŒck aus der Gegenwart, „Doonesbury“ von Garry Trudeau (*1948), erschien ab 1970 folgerichtig in tĂ€glichen Portionen, als Comic Strip in bis zu 1400 Zeitungen. Ein ausuferndes Repertoire aus fiktiven wie realen Personen (Donald Trump gehörte schon in den spĂ€ten 1980er Jahren dazu) kreist um die Figur des Football Quarterback BD. In 43 Jahren entwickelte sich der Strip zur Chronik Amerikas, die sogar mit einem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde. Zum Ende der fortlaufenden ErzĂ€hlung kam es, als ausgerechnet Amazon Studios den Doonesbury Erfinder Trudeau mit der Produktion einer satirischen WebTV Serie beauftragte, die unter dem Titel Alpha House im April 2013 Premiere hatte.

Der Bruch mit durchaus ironischer Pointe ist indessen kein dramatisches Ende, sondern ein Übergang in neue Formen des seriellen GeschichtenerzĂ€hlens.

  1. Kommerz plus Kunst, das ist der Trick

Selbst Vorreiter unter den Autoren-Produzenten des neuen Serien-Genres wie Jill Soloway („Transparent“) oder die Coen BrĂŒder (Fargo) hier gleich mit Balzac, oder gar mit Proust zu vergleichen ist, neu-amerikanisch gesprochen, gewiss ein „stretch“. Ihre BeitrĂ€ge werden allerdings in den sich ernst nehmenden Feuilletons mit einer Hochachtung bedacht, die uns doch sehr deutlich signalisiert: Hier geht es um Wichtiges!

Die Stars der herkömmlichen Autorenschaft etwa werden lĂ€ngst selbstverstĂ€ndlich nach ihren Lieblingsserien befragt (Daniel Kehlmann (*1975):“Mindhunter“), und ob sie auch ein Drehbuch fĂŒr Netflix schreiben wollten. (Wiederum Kehlmann: „Warum nicht? Nur hat bisher niemand angefragt.“ Wobei mich dies wundert, weil ich gerade ihn als einen tollen Partner in einer unberechenbar neuartigen Produktion mir vorstellen könnte.)

Mehr interessiert mich an dieser Stelle, dass es zu den Marotten zumindest der Serien fĂŒr die gehobenen kulturellen StĂ€nde zu gehören scheint, unvermutet und ausfĂŒhrlich ĂŒber das Wesen des ‚ErzĂ€hlens‘ zu rĂ€sonieren, und zwar jeweils mit Anlauf, der deutlich markiert: Achtung, jetzt werden richtig Gedanken gewĂ€lzt!

Nur ein Beispiel: Am Ende der ersten Staffel von „Westworld“, unter dem bereits mit Bedeutsamkeit aufgemotzten Titel „Die Bikamerale Psyche“, nachdem eben wieder ordentlich gestorben wurde, tritt Anthony Hopkins (Signal: “Kult“! „Schweigen der LĂ€mmer“) hervor, der als „Ford“ die ganze Serie geheimnisvoll aus dem Hintergrund steuert (Ford: Appelliert natĂŒrlich an den Pionier der Serienfertigung in der US Autoindustrie, dessen ‚Fordismus‘ schon Aldous Huxley zu seinem Roman „Schöne Neue Welt“ inspiriert hatte), kurzum Anthony Hopkins schlĂ€gt plötzlich diesen allwissend vĂ€terlichen ‚ich sag Dir jetzt was ganz Wichtiges, Sohn‘ Ton an, und raunt: “Sie werden die Kontrolle ĂŒber uns verlieren!“ (Es geht in der wild verschlungenen Geschichte von Westworld um kĂŒnstliche Menschen, die in Endlosschleifen mit Abweichungen fĂŒr zahlende menschliche GĂ€ste eine Wild-West-Simulation auffĂŒhren, in der die echten Menschen die kĂŒnstlichen Wesen umnieten dĂŒrfen („Ist ja nur eine Simulation“), aber bald gerĂ€t alles irgendwie aus den Fugen.

Dann enthĂŒllt Ford/Hopkins der Kunstfigur Bernard, dass es schlicht darum geht, wie wir alle „gerettet“ werden sollen, denn am Ende gehe es immer um „Das Leiden. Den Schmerz darĂŒber, dass die Welt nicht so ist, wie man es sich wĂŒnscht.“ Schnitt. Dann Hopkins/Ford weiter: „Schon als kleines Kind habe ich Geschichten geliebt, habe geglaubt, dass uns Geschichten zu besseren Menschen machen wĂŒrden.“ Und dieses selbstreflexive GrĂŒbeln deutet schließlich an, dass es an dieser Stelle um nicht weniger als um die „Geburt eines neuen Volkes“ geht. Abspann. Ende der ersten Staffel. Alles offen fĂŒr das Folgende.

SĂ€mtliche VersatzstĂŒcke des „offenen Kunstwerkes“, wie es etwa der Semiotiker (und Bestseller-Romancier) Umberto Eco (1932 – 2016) beschrieb, werden hier recycelt, zur Wiederverwertung neu aufgeschĂŒttelt und nach allen Regeln der ErzĂ€hlkunst wie in einem Puzzle neu zusammengesetzt. Das ist nicht abwertend gemeint. Auch die klassische Moderne hat Ähnliches mit der Erhabenheit der Ă€lteren Kunst angestellt, und damit bald schon die Fundamente fĂŒr einen wuchernden modernen Kunstmarkt gelegt, mit seinen Stars und Galleristen, Sammlern und Musen, anfangs in ein paar avantgardistischen StĂ€dten wie Paris, Berlin oder New York, doch heute global mit neuen, prosperierenden Drehscheiben in Asien, in Hongkong, Singapur oder Manila.

FĂŒr die Betrachter erfĂŒllt das vielleicht ein wenig ungelenke Theorie-Geraune des Anthony Hopkins den bewĂ€hrten Zweck – wie im offenen Kunstwerk dargelegt -, Leerstellen zu schaffen, die wir in den gezielt uneindeutig bleibenden ErzĂ€hlungen und Bildern neugierig-kreativ mit unseren Projektionen auffĂŒllen. Das macht die Auseinandersetzung erst richtig spannend, und die Kunstwerke relevant, weil sie ĂŒber diese interaktiven Bewegungen sich plötzlich eignen, Formeln und Schablonen fĂŒr eine Gegenwart anzubieten, die uns im Alltags-Erleben ĂŒberfordert.

  1. ErzÀhlen wie auf Amphetaminen

ErzÀhlt wird in vielen der Serien primÀr mit Bildeinstellung, Schnitt, Rhythmus und szenischer Abfolge, und erst sekundÀr mit dem Text der Darsteller, oder auffÀllig hÀufig auch durch irgendwelche ErzÀhlerstimmen aus dem Off.

Als ein Romanleser, der den Plot oft schon in der Mitte des Buchs vergessen hat, und auch einen Krimi, der mir gefĂ€llt, schon mal zwei Kapitel vor der Auflösung zuklappt und beiseite schiebt  – und dann das Buch dennoch hartnĂ€ckig weiter empfiehlt, weil es mir ja gefallen hat -, bin ich am meisten fasziniert vom visuellen ErzĂ€hlduktus vieler guter Serien. So wie mich der Sound eines Romans gefangen nimmt und schwerelos ĂŒber die Seiten trĂ€gt – W.G. Sebalds „Die Ringe des Saturns“, wo ich nach 250 Seiten freimĂŒtig bekannte, ich wisse noch nicht so recht, worum es in dem Buch gehe, das ich gerade verschlang – genau so glitt ich mitunter in einer Serienfolge hinein in einen Strudel aus visuellen Impulsen!

„Fargo“ der Coen BrĂŒder ist dafĂŒr ein gutes Beispiel. Nur ein oder zwei Monate, nachdem ich mich durch etliche Folgen durchgesurft habe, lese ich die Inhaltszusammenfassungen nach, staunend, wie nahezu vollstĂ€ndig sich meine Erinnerung an die Story aufgelöst hat. Doch Bilder, Stimmungen, und insbesondere der Rhythmus haben sich eingeprĂ€gt.

Manche Serien rĂ€umen den Geschichten, die sie vermitteln, scheinbar unendlich viel Zeit ein. Sie sind damit geradezu das radikale Gegenteil zur vermeintlich so ungeduldigen ‚Handy-Kultur‘ ihrer Kern-Zielgruppe der ‚Millennials‘, denen ja stets unterstellt wird, gerade noch ĂŒber Aufmerksamkeitsspanne von Eintagsfliegen zu verfĂŒgen. Viele Serien wuchern mit ihrer FĂŒlle an Figuren-Charakterisierungen, und mit ausschweifenden Abweichungen vom hauptsĂ€chlichen ErzĂ€hlstrang. Mein persönliches Paradox als Leser ist, dass die epische Breite der meisten Serien weit ĂŒber meine Geduld hinausschießt, vorĂŒbergehende Nebenfiguren und HandlungsstrĂ€nge, oder noch so periphere Details zu memorieren, welche vielleicht irgendwo spĂ€ter in einer Folge plötzlich wieder ins Zentrum schießen.

Doch vieles an diesen Schleifen und Wendungen geschieht eigentlich gar nicht primĂ€r als ‚ErzĂ€hlung‘, sondern als Bildfolge, als ein visuelles und unberechenbares Patchwork. In den allerbesten Momenten erinnern mich dann solche Sequenzen an die experimentellen Literaturen der 1950er und 1960er Jahre, an den Nouveau Roman, wenn dieser erzĂ€hlfreudig wurde wie bei Nathalie Sarraute (z.B. „Tropismes“, 1957) oder Alain Robbe-Grillet („L’AnnĂ©e derniĂšre Ă  Marienbad“, cinĂ©-roman, 1961), oder an Gedichte von Ernst Jandl (1925 – 2000), wenn dieser allein Worten und Klang vertraute. Es liegt darin eine Unverfrorenheit, die mir gefĂ€llt. Die Serien-Ästhetik wuchtet dies jedoch in eine andere Dimension.

Mich fasziniert und erschreckt zugleich, wie in Serien wie „Fargo“ jeder Auftritt, jeder Dialog ansatzlos auf den Betrachter einstĂŒrzt. Atemlos. Rauschhaft. Es ist ein ErzĂ€hlen wie auf Amphetaminen. Es ist, obwohl dies eigentlich unvereinbare WidersprĂŒche sind, ein nahtlos gewebter ErzĂ€hlteppich, der zugleich – Stichwort ‚offenes Kunstwerk‘ – erfĂŒllt ist von jenen offenen, weil bedeutungsleeren ProjektionsflĂ€chen fĂŒr meine Phantasien, welche die Kunst der Moderne so provokant gemacht hatten. Allerdings bleibt auch, Ă€hnlich wie sich die Postmoderne gegenĂŒber der Moderne ausnimmt, eine Beliebigkeit, geradezu eine Fadesse, perfekt um sich beim Binge-Watching am Sonntagnachmittag mit Freunden am Sofa wonnig zu verlieren.

  1. Sofas: Ortlos, Story: Aus dem Dorf.

Das Setting aus Sofa mit Freunden und Binge-Watching ist ortlos. Etliche der erwĂ€hnten Serien ebenfalls. Als Voraussetzung ist es hinreichend, wenn wir uns ein Mittelstands-Milieu vorstellen, irgendwo zwischen Minneapolis, Barcelona, BogotĂĄ, Kopenhagen, Dubai oder Singapur, Menschen also, die ĂŒber die Zeit, Bildung und finanziellen Mittel verfĂŒgen, sich dieser frivolen Übung hinzugeben. Diese Mittelklasse ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten um hunderte Millionen Haushalte weltweit gewachsen. Es ist die Zielgruppe, der Globalisierung, und deren grĂ¶ĂŸte Nutznießer. Sie umfasst die unterschiedlichsten kulturellen IdentitĂ€ten, religiösen Zugehörigkeiten und politischen PrĂ€ferenzen. Nicht wenige geben ihre Stimme bei demokratischen Wahlen neuerdings fĂŒr jene ab, die genau diese Globalisierung bekĂ€mpfen. Was sie eint, ist vor allem die Option, sich Teile eines ‚privaten‘ Lebens zu gestalten.

Zu diesem Gestaltungswunsch gehört es, einander Geschichten zu erzĂ€hlen, in denen Gedanken, Fantasien und auch Ängste, die LebensentwĂŒrfe und die Bruchstellen, zu immer neuen Teppichen verwoben werden.

Deshalb funktionieren manche dieser Stories nahezu ĂŒberall im globalen Dorf. Aber auf die eine oder andere Art ist jede dieser Stories zugleich auch ĂŒberaus spezifisch.

Selbst wenn der kaum noch ĂŒberschaubare Ausstoß – und die zunehmende RivalitĂ€t – der großen US-HĂ€user Netflix, Amazon Studio und HBO (und demnĂ€chst einiger mehr, von Disney bis Comcast) – den Weltmarkt der TV-Serien dominiert, ist von bemerkenswerten alternativen Beispielen zu berichten.

DĂ€nemarks kleiner öffentlich-rechtlicher Sender DR gilt mit „Borgen“, „The Bridge“, und insbesondere „The Killing“ als BrutstĂ€tte fĂŒr das ‚dĂ€nische Serienwunder‘, dem Serien-Pendant zum vorausgegangenen Welterfolg des ‚Nordic Crime‘ bei BĂŒchern wie eben jener Millenniums-Trilogie von Stieg Larsson.

Die Zauberformel fĂŒr die Serien (und auch gleich fĂŒr die vorausgegangenen Krimi-BĂŒcher) lautet: “Keep it local, put the author at the centre of the production and avoid TV adaptations.“ Das sagt Morten Hesseldahl. In den entscheidenden Jahren war er verantwortlich fĂŒr alle diese Produktionen beim TV Sender DR. UnlĂ€ngst hat er, einmal mehr in seiner beruflichen Laufbahn, das Medium gewechselt um nun das grĂ¶ĂŸte dĂ€nische Verlagshaus Gyldendal in diesen an ĂŒberraschenden Wendungen so reichen Zeiten zu leiten.

Die Formel „Keep it local“ und „Vertraue den Autoren“, anstelle von irgendwelchen ZwischentrĂ€gern, hat schon in der Welt der BĂŒcher so manchen Welterfolg ĂŒber eine Art Wurmloch-AbkĂŒrzung aus den Ă€ußersten Peripherien in die globalen Verteilungszentren der Kulturindustrien katapultiert. Die sĂŒdindische Dorfgeschichte „The God of Small Things“ von Arundathi Roy (*1961) aus Kerala, erschienen 1986, lange vor dem Ayurveda-Ferienboom, ist ein frĂŒhes Beispiel. Aber auch der Weg der J.K. Rowling (*1965) gehört in diese Reihe, die ungefĂ€hr zur selben Zeit den ersten Band ihrer Harry Potter Serie – als Serien noch als unverkĂ€uflich galten – in Coffee Shops in Edinburgh schrieb.

Heute offeriert Netflix immer wieder einen glĂ€sernen Aschenputtel-Schuh Autorinnen oder Autoren aus ĂŒblicherweise von den Kulturindustrien ignorierten Peripherien, dem kroatischen Bosnier Ivica Dikic etwa (*1971, Netflix Serie „The Paper“, 2018, oder Hannah Gadsby (*1978) aus Tasmanien, deren „Nanette“ laut USA Today gar das Genre der Stand-up Comedy „revolutionierte“. Freilich sind es zumeist lokale Autorinnen und Autoren, die in ihrem – mitunter noch so kleinen – Heimatmarkt bereits ihre Lorbeeren verdient und ihr professionelles Können unter Beweis gestellt haben. Auch Aschenputtel zog das große Los erst, nachdem die missgĂŒnstige Stiefmutter auf sie aufmerksam geworden war.

Nicht alle neuen Serien-Formate sind global ausgerichtet. Im Gegenteil, das einmal entwickelte Format lĂ€sst auch durch und durch nationale Abwandlungen zu. Frankreichs Canal+, als Produktionspartner seit Jahrzehnten ein Wegbereiter des europĂ€ischen wie auch afrikanischen Autoren-Kinos, ist auf das serielle Modell aufgesprungen mit nichts weniger als einer Huldigung an den Sonnenkönig und dessen Fortschrittsglauben an die ‚Grande Nation‘. Die drei Staffeln von „Versailles“, ĂŒber König Ludwig den XIV (1638 – 1715) und Erbauer der epochalen Schloss- und Gartenanlage von Versailles, legen erst einmal ein computergeneriertes Design vor, also wollte man das Universum Frankreich insgesamt auf eine Spielekonsole packen. Auch Sex und nackte Haut kommen nicht zu kurz, sogar das unter dem Schoß seiner Geliebten begrabene Schamhaar des Königs ist fĂŒr einen Wimpernaufschlag zu sehen.

Faszinierender, weil ĂŒberraschender ist jedoch, wie frĂŒh-neuzeitliche Technikgeschichte, die VerknĂŒpfung von Wissenschaft mit Zuversicht im Kreis der Vorausdenkenden als ein Nebenthema eingeflochten wird, neben all dem Geschnatter von Hofschranzen, welche den Gusto am Historienschinken bedienen. Und nur ein Schelm mag im grandiosen Spektakel um die gegenwĂ€rtig eher mĂŒde Mittelmacht Frankreich hier den Bogen von Ludwig im Schloss Versailles hin zum gegenwĂ€rtigen Reform-Enthusiasten Emmanuel Macron im ElysĂ©e spannen. Dumm allerdings, dass „Versailles“ bereits nach der dritten Staffel ein ungeplant vorzeitiges Ende fand. Nicht jede Huldigung wird am Ende auch vom Volk mitgetragen.

Gewiss sind die hier angesprochenen Beispiele fĂŒr den Serien-Boom des vergangenen Jahrzehnts eine sehr verkĂŒrzte Best-Of Schau, und gerade kein reprĂ€sentativer Querschnitt durch den immensen Ausstoß an neuen digitalen Video-Geschichten.

Vielleicht ist die wirkliche Überraschung hinter der Erfolgsgeschichte aber auch eine ganz andere: NĂ€mlich die unglaubliche Menge von Geschichten und Stories, von ErzĂ€hlformen, Themen und Stilen, die offenkundig ĂŒber lange Zeit weder in den herkömmlichen Spielfilm-Abteilungen der meisten Fernsehsender, noch in den vielen Buchverlagen wahrgenommen worden sind.

  1. Netflix als Paradigma

Mit 124 Millionen zahlenden Abonnenten aus 190 LÀndern, Einnahmen von 11,7 Milliarden Dollar im Jahr 2017, und krÀftigen Zugewinnen von 40 Prozent im ersten Halbjahr 2018 ist Netflix zur Zeit die Marken-Ikone der neuen globalen Medienindustrie. Im laufenden GeschÀftsjahr 2018 plant Netflix 13 Milliarden Dollar in Eigenproduktionen zu investieren. 2017 waren es 6 Milliarden.

Zum Vergleich: Der weltgrĂ¶ĂŸte Publikumsverlag, Penguin Random House, berichtete fĂŒr das GeschĂ€ftsjahr 2017 einen Umsatz von 3,359 Milliarden Euro. Bertelsmann als dessen deutscher Mutterkonzern, zu dem unter anderem auch die RTL Fernseh-Gruppe und der Zeitschriftenverlag Gruner & Jahr gehören, machte 17,190 Milliarden Euro Umsatz, allerdings ohne bemerkenswerte Wachstumsphantasien in den vergangenen Jahren.

‚Netflix‘ ist dabei nicht allein am weiten Medienfeld. Amazon Studios ist lĂ€ngst mit massivem Einsatz seiner Mittel in den Ring gestiegen. Die GrĂ¶ĂŸenordnungen, um die es hier geht werden deutlich aus einer Pressemeldung in der Financial Times im FrĂŒhjahr 2018, wonach Amazon fĂŒr die Verfilmung der chinesischen Science Fiction „Trisolaris“ Trilogie von Liu Cixin (*1963, deutsch „Die drei Sonnen, „Der dunkle Wald“ und „Jenseits der Zeit“) eine Milliarde Dollar zu investieren plant. Die daraus entstehende Serie solle zu einem neuen „Star Wars“ werden. Möglicherweise ist dies mehr ein PR Gag als eine fundierte Vorschau auf eine GeschĂ€ftsplanung, doch die Latte wird mit der Notiz deutlich nach oben gelegt.

Im Sommer 2018 hat ĂŒberdies ein Bieter-Krieg mit EinsĂ€tzen im hohen zweistelligen Milliarden-Bereich zwischen Disney und dem Kabel-TV Konzern Comcast um Teile von Rupert Murdochs Fox- -Imperium deutlich gemacht, dass hier eine geradezu epische Schlacht um die kĂŒnftige Herrschaft ĂŒber Inhalte und deren Konsumenten im ganz großen Maßstab ausgefochten wird. (Hier eine Zusammenfassung)

Drei strategische Dimensionen greifen hier ineinander:

  • Die VerknĂŒpfung von globaler Reichweite bei gleichzeitig lokaler NĂ€he;
  • Die VerknĂŒpfung von Inhalten zur punktgenauen Personalisierung;

 

  • Die Konfrontation zwischen allen herkömmlichen, nationalen oder regionalen Anbietern von Inhalten mit einer neuen globalen Konkurrenz, die finanziell auf völlig anderen Ebenen agiert.

Zusammen genommen ist es wohl nicht ĂŒbertrieben, hier den Eintritt in ein neues Zeitalter der Unterhaltungsmedien auszumachen.

Markus Dohle, Chef von Penguin Random House, der gut weiß, wie ansteckend sein jungenhaftes Selbstbewusstsein wirken kann, zeigt sich auf allen BĂŒhnen, die er betritt zuversichtlich. Dohle schwört auf gute Zeiten fĂŒr „Story Telling“, was seit je her den Kern der Buchkultur und damit des Verlagswesens ausgemacht habe. Vorausgesetzt, fĂŒgt er allerdings hinzu, die Verlage verstĂŒnden, dass nicht sie, sondern ihre Autoren im Mittelpunkt aller ihrer Unternehmungen stĂŒnden.

Insbesondere den zweiten Teil dieser Aussage hat freilich auch Netflix begriffen, und zu einem Angelpunkt seiner globalen Expansion gemacht. Dabei spricht Netflix natĂŒrlich auch mit klassischen Buchverlagen, und hat sogar eine angesehene New Yorker Literaturagentur mit ‚Verlags-Scouting‘ beauftragt, also zum AufspĂŒren interessanter Stoffe aus BĂŒchern. Denn natĂŒrlich liefern erfolgreiche BĂŒcher immer wieder die Vorlage fĂŒr wiederum erfolgreiche TV-Serien.

Elena Ferrantes Weltbestseller „Una amica geniale“ wurde unlĂ€ngst in Venedig unter großem Applaus herumgereicht, als HBO die ersten Folgen der Serien-Verfilmung zeigte. Die Ko-Produktion mit der italienischen RAI sei „tot inszeniert“ worden, nörgelte der Deutschlandfunk.  SelbstverstĂ€ndlich haben sich alle wichtigen nationalen Stationen um die Rechte rissen, angefangen vom Pariser Canal+ fĂŒr Frankreich und die französisch-sprachigen LĂ€nder Afrikas, Sky fĂŒr Großbritannien, HBO ĂŒber seine Europa-Tochter fĂŒr Spanien, die skandinavischen LĂ€nder und weite Teile Mittel- und Osteuropas, VRT fĂŒr Belgien und Digiturk fĂŒr die TĂŒrkei. Ob die Rechte fĂŒr die Ausstrahlung in Deutschland nun auch endlich vergeben sind, war zum Zeitpunkt der Abgabe dieses   Textes noch unklar; aber schon der Erwerb der Publikationsrechte fĂŒr die BĂŒcher durch Suhrkamp erfolgte, ungeachtet der Italien-Liebe deutscher Leserinnen, spĂ€ter als in den meisten anderen großen BuchmĂ€rkten.)

Gelegentlich kann es sogar passieren, dass die Serien-Dynamik die Schaffenskraft selbst eines genialischen Autors ĂŒberflĂŒgelt. So geschehen, und viel zitiert, ebenfalls bei HBO, ausgerechnet bei „Games of Thrones“, als die Logik der Serie und des weltweiten Fan-Publikums nach dem Abschluss verlangte, doch Martin den abschließenden Band nicht zu liefern vermochte. So liefen letztlich Original-Buch und Serienskript auf jeweils eigenen Wegen auseinander.

Dass Buchverlage in diesen Dimensionen nicht mehr mitgestaltend beteiligt sind, sondern zum Glied unter vielen Dienstleistern in einer weit verĂ€stelten Wertschöpfungskette werden, die andere steuern, ist evident. Bei Ferrante kam das GlĂŒck der erheblichen Mehreinnahmen inklusive einer beratenden Rolle bei der Verfilmung ausgerechnet einem Doppelpack aus zwei Kleinverlagen zugute, der italienischen Edizioni E/O und deren amerikanischem Schwesterverlag Europe Editions. Was deutlich macht, dass die neue Welt der Serien nicht alleine zwischen den etablierten Großen ausgemacht wird.

Aber auch der Enthusiasmus von Penguin Random House und dessen CEO Markus Dohle ĂŒber die neuen Dimensionen des Story-Telling stĂ¶ĂŸt hier an noch ganz andere Grenzen, die selbst den grĂ¶ĂŸten Publikumsverlag der Welt, ausgerechnet mangels Reichweite ĂŒberfordern. Denn ‚talent‘ und ‚content development‘ sind die eine StĂ€rke von Netflix und Co. Der ganz lange Arm zu den Konsumenten, weltweit und individuell, ist die andere, strategisch wohl entscheidende Komponente in der neuen Geschichte um das Geschichten ErzĂ€hlen.

Im FrĂŒhjahr 2018 gab Netflix in Manila auf den Philippinen eine Stellenanzeige auf. Gesucht wurde ein „editorial analyst“ mit der Hauptaufgabe „watch, research, rate, tag, annotate and write analysis“. Die genauen Anforderungen an den professionellen Binge Watcher griffen allerdings hoch: “The ideal candidate has a deep knowledge, 5+ years experience, and education in the film and/or television industry, can write efficiently with attention to detail, is comfortable using a variety of publishing tools, and is thoughtful in the delivery of information while working on a diverse team”, und er oder sie sollte doch bitte neben Englisch wenigsten noch eine weitere Sprache beherrschen.

Netflix, wie auch alle anderen großen Digital-Konzerne, beschĂ€ftigen wachsende Heerscharen von Menschen, die erst einmal manuell und mit menschlicher Intuition ein minutiöses ‚Tagging‘ – oder Indizieren nach tausenden Stichworten – der Flut der digitalen Inhalte vornehmen. Die Flut wird gewissermaßen in Strömungen, Wellen und dann noch weiter bis in einzelne Tropfen geteilt und haarfein strukturiert in Datenbanken erfasst. Dies ist das Material, welches dann mittels ‚Machine Learning‘ und kĂŒnstlicher Intelligenz weiterverarbeitet wird, um schließlich – im Abgleich mit den individuellen Sehgewohnheiten jedes einzelnen Abonnenten – persönliche Empfehlungslisten zu erstellen. Dieses aufwendige Verfahren lohnt sich freilich allemal mehr bei einer Serie, die ĂŒber etliche Episoden und Staffeln, ĂŒber Monate und Jahre lĂ€uft -als fĂŒr einen einzelnen Film von 90 oder bestenfalls 120 Minuten Ausstrahlungsdauer. Serien, die mich als Betrachter einfangen und umhegen, locken, enttĂ€uschen und dann wieder versöhnen sind einfach besser geeignet um herauszufinden, was ich mag, und wer ich bin!

Mit diesem Vorgehen ist Netflix, genauso wie Amazon, nicht nur Content-Lieferant oder Marktplatz, sondern wenigstens zur HĂ€lfte auch Technologie-Konzern.

Am Ende unterscheiden sich alle diese Empfehlungsprofile, und machen jeden der derzeit 124 Millionen Netflix Abonnenten zum unverwechselbaren Individual-Kunden, und beschert Netflix gleichzeitig mit einer ebenso einzigartigen Schatztruhe an Daten.

Hier verlĂ€uft dann auch die wahre Grenze zwischen Netflix, Amazon, Facebook, oder Google einerseits – und dem Rest der Welt.

  1. Die Industrialisierung des Schreibens

Und was bedeutet dies alles fĂŒr die Autoren?

Zu allererst neue Optionen. Dies ist angesichts der schrumpfenden BuchmĂ€rkte quer durch Europa und die Welt erst einmal eine gute wie wichtige Nachricht. Denn neben der Möglichkeit zu neuen AuftrĂ€gen und Veröffentlichungsmodellen ist es ein wegweisendes Signal, dass ErzĂ€hlen, auch in differenzierten Formen, mit allem, was zu Geschichte und Diskursen dazu gehört, kein aussterbendes PlĂ€sir alternder Kultureliten darstellt. Ganz im Gegenteil. Die Gegenwart in ihren ĂŒberfordernden Wirrungen, mit unklaren Perspektiven und Deutungen, sucht sich in neuen Geschichten einmal mehr die unterschiedlichsten ProjektionsflĂ€chen. Denn, wie gesagt, am Erstaunlichsten am Boom der neuen Medien-Konzerne und der Serien ist, dass diese Geschichten nicht zu allererst in den angestammten HĂ€usern, von Verlagen bis zu nationalen TV Anstalten ihre Foren gefunden haben.

Wie weit diese beiden Welten des Alten und der Neuen bereits auseinandergedriftet sind, zeigt sich nicht zuletzt an den neuesten Stars.

Jill Soloway muss hier aus vielerlei GrĂŒnden genannt werden. Ich blieb, noch ohne den Namen zu kennen, erstmals an einer Video-Sequenz von nur ein paar Minuten hĂ€ngen, nicht irgendwo im Internet, sondern im Jewish Museum an der Upper East Side in New York. Da liefen in einer Endlosschleife, als neueste Beispiele jĂŒdisch-amerikanischer IdentitĂ€t, eine Hand voll Videoclips. Ich ging extra noch einmal zurĂŒck, um mir eine Szene ein zweites und ein drittes Mal anzusehen: Da lĂ€sst sich eine offenkundig jĂŒdische Hochzeitsgesellschaft zum Gruppenbild zusammenfĂŒhren, alle schnattern durcheinander, jede und jeder zelebriert seine Charakter-Marotten, bis endlich jemand das Heft in die Hand nimmt und Regie zu fĂŒhren beginnt – ja, schon wieder solch eine kleine Selbstreferenz des Genres –, bis der bestellte Fotograf endlich das offizielle, gĂŒltige Bild im Kasten hat. Diese Miniatur ist mit einer VirtuositĂ€t, bei gleichzeitiger Non-Chalance inszeniert, die atemberaubend ist.

Mitten in der anarchischen Truppe dreht ein Ă€lterer Mann in weißen Frauenkleidern seine kleinen Pirouetten – womit fĂŒr Serien-Fans auch schon klar wird, dass die Szene aus Jill Soloways Kult-Serie „Transparent“ sein muss. Okay, die Fans haben diese Szene ohnedies lĂ€ngst verinnerlicht!

Die Episode eröffnete 2015 die zweite Staffel einer selbstironisch erzĂ€hlten, teilweise autobiographischen Geschichte rund um das Coming Out von Soloways Vater als Transgender. Transparent wurde von Amazon Studios produziert, dem wichtigsten Auftraggeber von Jill Soloway. Die Hauptfigur Morton Pfefferman wird hinreißend von Jeffrey Tambor gespielt. Doch aller Erfolg konnte schon bald nach der Ausstrahlung nicht den Skandal – und den Abbruch der Serie – verhindern, als Tambor sexuelle Übergriffe vorgehalten wurden. Soloway und ihr Hauptdarsteller, eben noch ein Traum-Gespann, ĂŒberwarfen sich. Damit nicht genug hat Soloway in der Zwischenzeit auch die eigene sexuelle IdentitĂ€t geĂ€ndert und lĂ€sst von sich nicht mehr als Er oder Sie, sondern nur in der neutralen Form eines „their“ sprechen.

Hier geht es nicht (oder: nicht allein) um ein Ineinandergreifen von kĂŒnstlerischen Biographien mit Zeitgeist und auch mit Gesellschaftspolitik. Es werden vielmehr Themen frontal angepackt, welche in der herkömmlichen Kulturindustrie kaum stattfinden. Dies betrifft nicht allein Inhalte, sondern ebenso Gestaltungs- wie auch Organisationsformen, in denen radikal neue Wege einschlagen werden. Und dies findet nicht in irgendeiner abgeschiedenen ‚Off‘-Nische statt, sondern professionell und kommerziell mit Blick auf einen Mainstream, im Selbstbewusstsein, hier am großen Rad der neuen Medienindustrie zu drehen.

Soloway ist sowohl Autor wie Produzent, macht das eigene Leben zum Manifest, und sich selbst zum Schanier weiterer Ambitionen. Die Produktionsfirma heißt programmatisch ‚Topple‘, abgeleitet von „toppling“ (also Abschaffen) patriarchaler HerrschaftsverhĂ€ltnisse. FĂŒr den Verlagsarm von Amazon verantwortet Soloway neuerdings auch ein Buchprogramm mit Fokus auf ‚queer‘ Themen, natĂŒrlich unter dem Label „Topple Books“.

Das alles bedeutet selbstverstĂ€ndlich nicht, dass alle Autoren kĂŒnftig zu Medienunternehmerinnen zu mutieren haben. Aber die Option besteht deutlicher als in der Vergangenheit. Und der Begriffswechsel vom (genialisch-solipsistischen) „Autor“ zum „Talent“, und vom „Werk“, welches bitte fertig abgepackt im Lektorat abzugeben ist, hin zu „Content development“, lĂ€sst gewiss eine Ahnung mitschwingen, dass hier nicht nur ein Einziger den hohen Ton anschlĂ€gt. Das verwandelt den alten handwerklichen Schaffensprozess in ein viel grĂ¶ĂŸer gedachtes, industrielles GefĂŒge.

Selbst die Geschichten der verehrten Ikonen, wie geschehen bei George R.R. Martin, können im Notfall von einem Team zu Ende gebracht werden. Aber umgekehrt können, in kĂŒrzester Zeit, abgelegene Geschichten vermögen unversehens ein neues Zentrum bilden.

FĂŒr die Autorenschaft bedeutet dies den riskanten Absprung aus dem spĂ€ten 18. Jahrhundert, einer Zeit der UmbrĂŒche und des Risikos, hinein in eine ruppige Landung im 21. Jahrhundert, welches wohl nicht ganz zufĂ€llig gekennzeichnet ist durch sowohl eine vergleichbare Unruhe, wie auch durch Ă€hnlich hochfliegende Hoffnungen auf Neues.

  1. Und dann? Wie neu beginnen!

„Alles bleibt anders“, lĂ€sst sich summierend gut kalauern. BĂŒcher hatten niemals ein Monopol als das beste, oder gar einzige Medium, um Geschichten ans Publikum zu bringen. Von den epischen SĂ€ngern der Vorgeschichte, ĂŒber Theater und Oper bis zu allen technischen Medien der vergangenen zwei Jahrhunderte, also Fotografie, Film, Fernsehen, gab es stets mehrere miteinander konkurrierende wie auch einander befruchtende Formate fĂŒr die ultimative Frage, die schon kleine Kinder intuitiv aufrufen, um die Gute Nacht Geschichte um eine weitere Volte – oder Folge – zu verlĂ€ngern: „Und dann?“

Es gibt mehr als nur eine allein gĂŒltige Form, um eine Geschichte richtig zu erzĂ€hlen. Doch bestehen erstaunlich wenige Varianten. Diese aber sind neutral was Medien und Formate anlangt.

Ästhetische Formen sind zum einen fundamental. Die grundlegenden Anlagen, Figuren einzufĂŒhren und zu entwickeln, Spannungsbögen aufzubauen und zu schließen, Überraschungen zu erzeugen, und zu enttĂ€uschen, Lachen und Ergriffenheit zu evozieren, haben sich seit dem Beginn der Aufzeichnung von Geschichten vor rund zweieinhalb Jahrtausenden wenig verĂ€ndert. Die Grundbausteine sind wenige.

Zum anderen gibt es doch sehr deutlich unterscheidbare Linien. Chinesische oder indische Epen funktionieren anders als alle Dramen nach der griechischen Tradition. Bis heute. Die wunderbar leichte Verfilmung der klassischen chinesischen „Reise nach Westen“ (è„żéŠèš˜) von Cheang Pou-soi aus Hongkong, eine Reihe von Spielfilmen, doch genau wie bereits die Romanvorlage von Wu Cheng‘en (ćłæ‰żæ©)aus dem 16. Jahrhundert als Serienhit angelegt, liefern dazu ein wunderbares Beispiel. Wo Streich auf Streich und Abenteuer auf Abenteuer folgen, und die Charaktere stoisch unverĂ€nderlich bleiben, sieht man sich zurĂŒckversetzt in frĂŒh-moderne Ikonen europĂ€ischer ErzĂ€hlungen, von Cervantes Don Quijote bis zum flĂ€mischen Til Eulenspiegel und dem Schelmenroman „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, erschienen 1668. Allesamt bahnbrechende ErzĂ€hlungen, deren LektĂŒre bis heute im Übrigen nicht nur lohnt, sondern auch gut funktionieren.

Die hingegen post-klassisch-griechische Mode der hohen Dramatisierung in komplizierten Bögen und theatralischen Formen, welcher auch die abrupt geschnittenen Bildfolgen in der aktuellen Serien-Ästhetisch verschrieben sind, das alles ist ĂŒberaus fruchtbares Post-Shakespeare Land.  Vielleicht auch deshalb braucht es hier die immer wieder kehrende Selbstreferenz, zur Selbst-Legitimierung. Die Literatur- und Theaterfestivals der Welt haben diese ReichtĂŒmer seit langem entdeckt. Konservativere Ecken der kulturellen Welten scheuen sich noch vor einem neugierigen Aufbruch in diese Zonen. Aber das wird noch.

Egal. Das Spiel, dem wir beiwohnen, ist gewiss Ă€lter, als wir es bedachten, als diese vorlĂ€ufige Recherche begann. Dieses Spiel ist unverfroren, rĂŒcksichtslos und maßlos. Deshalb mögen wir es so sehr.

“A great while ago the world begun,
With hey, ho, & c.
But that’s all one, our play is done,
And we’ll strive to please you every day.“

(William Shakespeare, Twelfth Night, Epilog)

Dieser Text wurde fĂŒr eine Veranstaltung der EuropĂ€ischen Literaturtage verfasst, die unter dem Titel „Das Gesetz der Serie“ am 24. November 2018 stattfindet, und vorab in einer gekĂŒrzten Fassung in der Kolumne „Virtualienmarkt“ im Perlentaucher veröffentlicht.

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