Kulturbetrieb: Wohin geht die Reise?

Wie kann ein Neustart gelingen? Zur Debatte in Österreich und international.

Versuch einer Orientierung in der aktuellen Debatte zwischen Kulturschaffenden, Künstler*innen und Kulturpolitik in Österreich. Dieser Text wurde als “Kommentar der Anderen” für “Der Standard” geschrieben. Dies hier ist eine erheblich erweiterte Arbeitsfassung, die fortlaufend um Daten, Materialien, Querverweise und Links erweitert wird. Diese Erweiterungen sind eingerückt und kursiv gesetzt.  

In einigen Monaten, nach dem Sommer, wenn Kulturpolitiker und Kulturschaffende sich auf alltagstaugliche Regelungen verständigt haben werden um am Theater zu proben, wenn Konzerte in angepassten Räumen wieder stattfinden, Filmproduktionen erneut anlaufen und auch Autorinnen und Autoren wieder live zu ihrem Publikum sprechen, wird es viele Überraschungen geben. Gute wie böse.

Hier eine Einschätzung aus dem Economist über die voraussichtlichen wirtschaftlichen Folgen der Covid-19 Krise. Die für mich wichtigste Aussage sind diese 3 Thesen: “(…)in the long run the firms that survive will have to master a new environment as the crisis and the response to it accelerate three trends: an energising adoption of new technologies, an inevitable retreat from freewheeling global supply chains and a worrying rise in well-connected oligopolies.”

In vielen Aspekten quer durch die Kultur wird dies keine Rückkehr zu vertrauten Gewohnheiten bringen, sondern viele ungewohnte, neue Gangarten. Warum sollte auch der professionell geführte Jazzclub wieder vergessen, was alles gelernt wurde im Krisensommer mit Videostreaming von Auftritten, die ein gezieltes online Marketing über direkte Kontakte zum Publikum ermöglichen?

Einige eher willkürlich ausgewählte Beispiele: Solothurner Literaturtage; Forum Stadtpark Graz; Lesungen für Zuhause (Österreichische Gesellschaft für Literatur + Österreichische Mediathek); Literaturhaus Salzburg; verschiedene Projekte zu Albert Camus: “Die Pest” im Rabenhof sowie auf FM4, und im Literaturcafé; als Film von 1992 im französischen Original; als Hörbuch zum gratis Download.
Für deutschsprachige Bühnen liefert die Plattform nachtkritik.de einen umfassenden “digitalen Spielplan” mit Streaming Angeboten der wichtigsten Bühnen.

Im Buchverlag wird man grübeln, ob all die Corona-Tagebücher und Krisengedichte von verdienten AutorInnen des Hauses nun tatsächlich auch noch zwischen Buchdeckeln erscheinen müssen, wenn zurückgestellte Titel die wirklich neuen Geschichten blockieren.

Die meisten Verlage quer durch Europa haben begonnen, für das Frühjahr 2020 geplante Neuerscheinungen auf den Herbst oder sogar auf 2021 zu verschieben; dasselbe gilt für zahllose Film-Releases.

Der Betreiber der Online-Plattform für das digitale Storytelling, die kleine Buchhandlung, die bis spät in die Nacht die Buchpakete aus dem Online-Shop zu den Kunden über viele Treppen hinauf ausgeliefert hat, oder der Vertrieb für Downloads von Hörbüchern, der das oft nervös-kurzatmige Auf und Ab der Nachfrage zu nutzen versucht (z.B. Bookwire oder Readbox), sie alle werden überlegen, wie sie die alten und die neuen Geschäftspraktiken am besten verknüpfen können. Berater schwärmen dann von ‚hybriden Modellen‘, also digital plus ganz normal. Daraus im Alltag Einnahmen zu erlösen, ist aber kompliziert und erfordert innovative Wege zu beschreiten.

Paradoxerweise waren die Umsätze im Online-Handel zwischen Januar und März rückläufig oder wuchsen deutlich langsamer als zuvor. Insgesamt lagen die Online-Umsätze bei Büchern und E-Books im 1. Quartal 2020 um 0,2 Prozent unter jenen des gleichen Zeitraums ein Jahr zuvor! Das rührt daher, das von den Online Käufen im Gefolge von Corona Krise und Lockdown nur einige der ganz großen Online Plattformen (neben Amazon etwa Thalia) sowie einige sehr engagierte kleine Händler (darunter kleine Buchhandlungen) profitieren konnten. Viele Händler hatten keine entsprechend gut eingeführten Online-Shops entwickelt. Amazon stellte bald so genannte “nicht-essentielle” Waren zurück, was laut Medienberichten zu längeren Lieferfristen etwa bei gedruckten Büchern und anderen physischen Medien-Produkten (z.B. DVDs) führte. In Frankreich musste Amazon sogar seine Auslieferungszentren schließen, weil entsprechende behördliche Auflagen zum Infektionsschutz nicht eingehalten wurden.

Interessanterweise konnten digitale Angebote nur bedingt – und mit bemerkenswerten Ausdifferenzierungen – vom Lockdown profitieren. Millionen Menschen waren mehr oder weniger strikt auf digitale kulturelle Angebote zum Konsum zu Hause angewiesen. Das Verhalten der Konsumenten entsprach dabei nicht immer den Erwartungen der Anbieter. Eine detaillierte Auswertung des Online-Verhaltens für Deutschland im Vergleich von Mitte Januar und Mitte März zeigt die größten Zuwächse bei “Visits” im Bereich News & Information (+58%) und Social Media (+32%), während Entertainment (+16%) hinter die Kategorie “Search & Navigation” rutschte. 

“Buchhändlerische Plattformen” legten bei der Anzahl von Downloads von Ebooks in Deutschland nach ersten veröffentlichten Zahlen zwar um 45% zu, aber der daraus erzielte Umsatz wuchs deutlich weniger. Ganz offenkundig hatten die Kunden andere Preisvorstellungen als die Anbieter, und bedienten sich vorwiegend bei im Preis reduzierten Angeboten. Aus noch unveröffentlichten Zahlen, die ich einsehen konnte, legten E-Books insgesamt nur eher mäßig zu, während wirklich großes Wachstum – nicht ganz überraschend – nur bei Hörbuch-Downloads zu verzeichnen sind.

Besonders stark scheinen Bibliothekskunden die digitalen Angebote zu nutzen. Eine Anfrage bei den Büchereien der Stadt Wien ergab für März ein spannendes Bild: “Betrachtet man die durchschnittliche Anzahl der Ausleihen in der virtuellen Bücherei, so lag diese im Jänner und Februar bei rund 1800, im März liegt sie bis jetzt bei 2500 und die Tage seitdem die virtuellen Angebote kostenlos zu nutzen sind, brechen alle Rekorde – vorgestern gab es 3470 Entlehnungen, gestern 4925. Es steht zu erwarten, dass sich dieser Trend noch verstärkt, wir hatten seit Bekanntgabe des kostenlosen Zugangs zur virtuellen Bücherei bis heute in der Früh über 9000 Anfragen nach diesem kostenlosen Zugang und unser Team ist intensiv bemüht, alle diese Wünsche auch zu erfüllen.” (Auswertung der Büchereien Wien zum 2. April, auf meine Anfrage.)

Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass der Boom an digitalen Buch-Downloads nach dem Lockdown Mitte März von kurzer Dauer, und keineswegs nachhaltig gewesen sein könnte. Für genaue Auswertungen ist es noch zu früh. Aber Brancheninsider mit genauen Einblicken ins Digitalgeschäft erwarten zwar langfristige erhebliche Verschiebungen im digitalen Nutzungsverhalten der Konsumenten, allerdings mit hoher Komplexität und Beweglichkeit (“Volatilität” > Kunden werden sich rasch dran gewöhnen, parallel auf unterschiedlichen Medien, Formaten – also digital wie auch print – über unterschiedliche Vertriebs- und Geschäftsmodelle wie Download/Kauf, Abonnement oder Streaming, jeweils mit hoher Fluktuation, zu konsumieren), so dass es nach der Krise beträchtliche Anstrengungen brauchen wird, will man dies längerfristig für die Umsätze der verschiedenen Kultursparten auch nutzen können.

Der enorme finanzielle Druck aus allgemeiner Wirtschaftskrise, geschrumpftem verfügbaren Einkommen der Kunden und oft noch krisenbedingten Schulden und Zahlungsrückständen wird eine zornige Peitsche schwingen, statt spielerisch zu Innovationen zu inspirieren.

Umsatzeinbrüche sind im deutschsprachigen Buchhandel ab Mitte März zu verzeichnen wegen der Schließung unter anderem auch von Kinos, Medienhandlungen, Buchhandlungen etc. In Deutschland ist der Umsatz mit Büchern zwischen der Kalenderwoche 7 (also vor Beginn der Krise) bis 17 (als Buchhandlungen überwiegend wieder öffnen durften) um -14,4 Prozent geschrumpft. (Belletristik -14,4%, Kinder- und Jugendbuch -4%, Sachbuch -20% – Quelle: Media Control) In Österreich gingen im stationären Buchhandel im März 2020 gegenüber März 2019 um -41,4% zurück.

 Musikerinnen und Schriftsteller, Filmschaffende und Kabarettisten, Schauspielerinnen, freischaffende Kunstpädagoginnen werden über Monate auf Zoom, Skype, Facebook und Instagram gelesen und gespielt, angeregt und unterhalten haben, allerdings ohne dafür Einnahmen zu erzielen. Denn es gibt derzeit keine tauglichen Plattformen, keinen Vertriebskanal und keine Informationsdienste, wo ich als interessierter Kulturkonsument für eine Lesung, ein Konzert oder ein Bildungsangebot online mit ein paar Klicks, hier 5 Euro für einen Stream, dort 10 Euro für ein Seminar oder bei einem Goodwill Programm einen Betrag meiner Wahl bezahlen könnte.

So ganz stimmt dies im übrigen nicht. Modelle existieren. Aber ihre Präsenz bei den Konsumenten ist sehr begrenzt.

Für Kinofilme gibt es erste ordentlich funktionierende Zahl-Angebote. (Z.B. Kino VOD Club oder Flimmit) Beim VODClub kann ich sogar aus einem Verbund kleiner Kinos entscheiden, wie ich gezielt meinem Stammkino eeinen Anteil aus meiner Zahlung zugutekommen lasse. Es gibt auch von der Stange Online-Shops mit „Pay-as-you-wish“ Funktion, die ich in mein Blog einbauen kann. Und Crowd-Funding, also Vorfinanzierung durch Online-Kampagnen in der Community, ist in der Generation unter 30 längst gebräuchlich.

Die großen Konzerne lernen aus der Krise oftmals rascher, weil sie in Innovationen investieren können. Netflix, zunehmend ein Konkurrent zu allen andren Erzählmedien, ob Kino, Buch oder Spiele, hat zuletzt deutlich mehr neue Abonnenten gewinnen können als in seinen Plänen prognostiziert.

Dabei geht es weniger darum, das eine Medium durch das andere zu ersetzen. Die Konsumenten passen sich erstaunlich flexibel an unterschiedliche Angebote an und wechseln vom gedruckten zum Hörbuch, zum Abrufen eines Films per Streaming, aber dann doch zum unvermittelten, emotionalen Besuch des Festivals, egal ob in Salzburg oder am Frequency. Home office und Video Conferencing werden nicht den Büroalltag mitsamt Kantine und Tratsch ersetzen, sondern neue gemischte Modelle werden rasch zum Arbeitsallta in den großen Konzernen – und nicht nur im Co-Working Space – gehören.

Z.B. in der Verlagsgruppe Random House in München, dem größten Publikumsverlag im deutschen Sprachraum: “Anfangs gab es zwei große Herausforderungen: erstens, die gesamte Verlagsgruppe – und wir reden hier von über 800 Menschen – innerhalb kurzer Zeit mit entsprechender Technik ins Homeoffice umzusiedeln. (…) Die weitere Herausforderung war, alle Kolleginnen und Kollegen an die neuen Abläufe zu gewöhnen – einerseits in der Herstellung, aber auch in den Lektoraten, mit denen wir ja ständig im engen Austausch sind.” Oder bei Amazon Publishing, dem internationalen Verlagsarm des Online Händlers.

Die Virus-Krise beschleunigt diese Veränderungen erheblich. Für die kleinen und mittelgroßen, mehr oder weniger freischwebenden Anbieter und Dienstleister bedeutet dies aber einen enormen Zuwachs an Konkurrenz um jede Minute Aufmerksamkeit und jeden Euro beim Zielpublikum.

Für den ab 1. Juli bestellten neuen Direktor der Wiener Staatsoper, Bogdan Roščić, ist eine rein ins Digital-Virtuelle transferierte Kultur ein “Alptraum”. Genau deshalb aber formuliert er im Antrittsinterview im ‘Falter’ sehr präzise, ‘hybride’ Überlegungen für die digitale Strategie der großen Oper:  

“Frage Falter: Sollte man das Streamen von Konzerten, Opern- oder Theateraufführungen gleich sein lassen?

Roščić: Wenn Streaming nur die Funktion hat, etwas abzubilden, was auf einer Bühne passiert, dann greift das zu kurz. Allerdings gibt es in Österreich Millionen Menschen, die mit ihren Steuergeldern die Staatsoper ermöglichen, sie aber nicht besuchen können. Dass ihnen das Programm über Streaming angeboten wird, ist als Teil der umfassenderen digitalen Dramaturgie eines Hauses auch wichtig. 

Frage Falter: Kostenlos?

Roščić: Ja. Bis zum Beginn der Corona-Krise war der Streamingdienst kostenpflichtig. Ab September wird er in Österreich, so wie auch jetzt, auf Dauer gratis sein. Im Ausland werden wir die Streams allerdings kommerziell vertreiben.” (Falter 18/20, 28.4.2020) 

Konzerne jeden Zuschnitts haben mehr finanzielle Kraft, um diese Vielfalt an Angeboten, Formaten, Kanälen und einzelnen Publikumsgruppen zu bespielen. Die zahllosen kleinen bis mittelgroßen Initiativen, die lokalen Verlage und Aufnahmestudios, Kleinkunst-Veranstalter oder Off-Bühnen, plus all die angeschlossenen Dienstleister, von Grafik, Bühnentechnik, Ticketing oder PR Agentur haben kaum die Kapazitäten um zu experimentieren, und aus jeder Aktion Kundendaten zu generieren und diese zur Optimierung zu nutzen. Der Umgang mit digitalen Daten ist teuer.

Diese meist von der Hand in den Mund wirtschaftenden kleineren Unternehmungen aber machen die Vielfalt, Nähe und auch bunte Identitäten stiftende Branche der Kulturschaffenden in ihrem Innersten aus.

Wenn in einigen Monaten, nach dem Sommer, die letzten Monatsüberweisungen aus den aktuellen Härtefonds überwiesen sein werden, und die sich dann vertiefende wirtschaftliche Krise viele ins Straucheln bringt, dann wird sich auch die Kulturpolitik sehr rasch mit ganz anderen Fragestellungen konfrontieren – und hoffentlich neu erfinden.

Kultursubventionen unterhalb der großen Häuser, egal in welcher Sparte, haben bislang zumeist vor allem die unmittelbaren Produktionskosten unterstützt. Die Kreativen, die Künstlerinnen und Autorinnen, die Veranstalter und Vereine sind für den jeweils nächsten Auftritt gerannt. Ihre Strukturen und Fundamente haben sie nebenher, so gut es eben ging, im Do-it-yourself improvisiert.

Wollen wir die in viele kleine Nischen und Segmente aufgesplitterte künstlerische Vielfalt, mit lokalen Produktionen und Nähe zu ihren jeweiligen Communities bewahren, dann werden die öffentlichen Fördereinrichtungen sich erneuern müssen, quer durch alle Sparten.

In knappen Stichworten: Statt nur Produktionsförderung mehr gezielt für Marketing und Community Aktivitäten von Produktionsvereinen und Veranstaltern; für „hybride“ Vermittlungsansätze zwischen ‚live‘ und ‚digital‘; Anreize für kooperative Marketing- und Vertriebsinitiativen; Fortbildungsangebote und Services in diese Richtungen; regelmäßige Überprüfung, ob Maßnahmen auch funktionieren; mehrjährige Verträge mit geförderten kleinen und mittelgroßen Einrichtungen, um Nachhaltigkeit zu entwickeln.

Das erfordert einen großen Dialog. Jetzt, in der Zeit ohne Proben und Vorstellungen, ist dafür die beste Zeit.

Versuch, Handke zu begreifen. Eine Herleitung. Die Reise an die Drina und zu Milosevic begann schon viel früher.

In den Debatten um die Verleihung des Nobel Preises an Peter Handke haben insbesondere dessen Jünger vom Beginn der Polemiken an ein Ausrufezeichen gesetzt: Man müsse Handke nur lesen!

„Hören Sie mich an.“ Dieser Satz aus Peter Handkes Buch „Langsame Heimkehr“ von 1979 war wenigstens für mich der titelgebende Schlüssel, als ich 1984 einen ausführlichen Aufsatz über Peter Handke für einem Sammelband schrieb, der dann 1985 auch erschienen ist.

Die in „Langsame Heimkehr“ ausführlich und emphatisch geschilderte Reise einer Findung markierte nämlich, wenigstens literarisch, den Wandel von Peter Handkes Kritik und Abarbeitung an der ‚Sprache‘ (zB „Hornissen“, „Kaspar“) hin zur Suche und dem Aufbau einer neuen Identität. Diese Verwandlung ging bemerkenswert bruchlos vonstatten, weil der Abbruch der alten Ordnung in der Sprachkritik gut aufgenommen werden konnte im neuen Ziel des ‚Findens‘, das seither Handkes Werk ausrichtet.

Im Aufsatz von 1985 schrieb ich dazu:

So beginnt Sorgers Heimkehr mit dem Satz: ‚Sorger hatte schon einige ihm nah gekommene Menschen überlebt und empfand keine Sehnsucht mehr (etwa nach Zukunft; Anm. R. W.), doch oft eine selbstlose Daseinslust (die Lust auf die gleichbleibende, unveränderliche Gegenwart; Anm. R. W.).‘ Konsequent und unaufhaltsam errichtet sich Sorger eine magische Welt, in deren Mittelpunkt er selbst steht, und die allein auf ihn ausgerichtet ist: ‚Er ahnt die Möglichkeit eines ganz erschienenen Darstellungsschemas der Zeitverläufe in den Landschaftsformen und sah sich, verschmitzt und schmunzelnd wie seit jeher die Umdenker (das war ihm auf all ihren Photographien aufgefallen), der Welt seinen eigenen Schwindel unterschieben.‘

Der Kreis löst nun die Gerade ab. ‚Alldurchsichtigkeit‘ ersetzt die Kausalität.25 Aus der Wirklichkeit springt die ‚Welt‘. Wer jedoch jene ‚Welt‘ erkannt hat und dann auch noch zurückkehrt in das ‚phantasielose, blutsaugerische Elend‘, der hat – für sich – wohl auch das Problem der Sprache gelöst. Sein Sagen ist appellativ, sein Vokabular das der Beschwörung: ‚Hören Sie mich an.” Und: “Ich sehe mich in der Mitte der Menge gehen und glaube, gerecht zu sein.‘

Es ist nur folgerichtig, argumentierte ich damals, Hugo von Hofmannsthals Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ von 1927 zitierend, dass diese Findung bei Handke angesichts der „angestrebten Umwertung der Wirklichkeit“ wie schon bei Hofmannsthal, ein „eminent politischer Vorgang“ sei, der auf die „Nation“ ziele: „Die Aufgabe des prophetischen Dichters ist es, diese andere Wirklichkeit herzustellen.“ (Meine Schlussfolgerung von 1984/85)

Tatsächlich hat Handke dies in seinen Werken in den unmittelbar folgenden Jahren in dem „dramatische(n) Gedicht“ „Über die Dörfer“ (1981) und in dem für mich immer noch unverständlich schlechten, weil so hölzern thesenhaften Roman „Der Chinese des Schmerzes“ (1983) genau so ausgeführt.

Im Roman erschlägt der betuliche Erzähler einen Hakenkreuzschmierer in der Nacht im Wald, wie in einem Amoklauf, nach einem wilden Crescendo düster dramatischer Szenen inmitten banalstem gegenwärtigem Salzburger Gegenwartsalltag, jedoch unter Berufung auf ein höheres „Gesetz“ und andere hoch tönende Begriffe, welche dann gegen Schluss in Sätze münden wie:

„Danach das gemeinsame Ansehen der Fernsehnachrichten, und am Ende der Ausruf: ‚Aber irgendeine Unsterblichkeit muß doch immer noch möglich sein!‘“ (S. 240)

Natürlich, argumentierte ich bereits 1984/85, sei dies reinster mythologisch verbrämter Kitsch, der jedoch auf Höheres ziele.

Von heute aus aber, nach den Jugoslawienkriegen und nach Handkes späteren politischen Einlassungen dazu, lassen sich einige prekäre Verbindungslinien ins Folgende zeichnen.

Damals, um die Mitte der 1980er Jahre, als von außen betrachtet Jugoslawien noch weitgehend stabil aussah und weder die Zeitenwende von 1989 noch die balkanischen Zerfallskriege von 1992 bis 1995 absehbar waren, erschien mein textkritischer Verweis auf Hofmannsthal, die „Nation“ und den „prophetischen Dichter“ als eine gewiss etwas gewagte Konstruktion. Aber ich war aufgeschreckt von den mir unschön vertrauten poetischen Figuren!

Ich wusste damals schon gar nicht, dass gerade eben, in diesen Jahren, in einer „Akademie der Wissenschaften“ in Belgrad, damals noch unangefochtene Hauptstadt in Jugoslawien, in gewiss hitzigen Debatten ein „Memorandum zur Lage der serbischen Nation“ geschrieben wurde, das nur wenige Jahre später die ideologische Blaupause für Krieg, „ethnische Säuberungen“  und Genozid in einem Land münden sollte, das nur wenige Kilometer südlich meiner Heimatstadt Graz lag, und in dem ich als Kind und Jugendlicher meine ersten großen Reisen in die „Fremde“ erlebt hatte.

Die Konstellation erscheint auch jetzt noch, da ich dies einmal mehr memoriere und aufschreibe, umso absurder, als die Lektüre von Peter Handke für mich selbstverständliche Wegmarken meiner literarischen Sozialisierung definierte:

  • 1972: Handke: Wunschloses Unglück;
  • 1974: Mein Abitur („Matura“ in Österreich), Wahlfach deutsche Literatur;
  • 1975: Handke: Die Stunde der wahren Empfindung.

Und so fort.

Ich war freilich nie Handke „Fan“. Vielmehr stand Handke für jene andere, durchaus nahe, jedoch entgegengesetzte Strategie, auf die Welt zuzugehen und diese zu sortieren. Aber Handke war eine klare Wegmarke und Referenz, gut tauglich zur eigenen Orientierung.

Im Februar 1992, zwei Wochen vor Ausbruch des Bosnien Krieges, war ich für eine ausführliche Radio-Reportage in Sarajewo, und interviewte unter vielen anderen sowohl Staatspräsident Alija Izetbegovic wie auch den damaligen Führer der Serben-Fraktion im bosnischen Parlament, Radovan Karadzic, im klaren Bewusstsein, dass der Kriegsausbruch unmittelbar bevorstand. Die Aufarbeitung durch den Internationalen Gerichtshof in den Haag hat hier die für mich gültigen Urteile und Einschätzungen vorgenommen. Ich war auch seither immer wieder in Sarajewo und vielen anderen Orten Ex-Jugoslawiens.

Peter Handkes Slowenienbuch „Die Wiederholung“ (1986) hatte ich mit Begeisterung und Erleichterung (nach dem „Chinesen“) gelesen, ebenso wie seine wunderbare Übersetzung aus dem Slowenischen (mit Helga Mracnikar, 1981) des „Zögling Tjaz“ von Florian Lipus, den ich 1983 interviewt hatte.

In den Jahren dazwischen, bis zur „winterliche(n) Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ (1996), erschienen nur ein Jahr nach dem Abkommen von Dayton 1995, das den Jugoslawien-Zerfalls- oder Sezessions-Krieg mit einem förmlichen Friedensvertrag beendete, muss Peter Handke als Person und Autor einen komplexen, vermutlich hoch widersprüchlichen Prozess durchlebt haben, über den ich an dieser Stelle allerdings nicht spekulieren will.

Für diesen Beitrag hier war mein Ziel eine Herleitung.

Original:
PeterHandke. Die Arbeit am Glück. Hg. v. Gerhard Melzer und Jale Tükel, Athenäum, 1985.

Mein Beitrag von 1985: “Hören Sie mich an” > Download:

Peter_Handke_Die Arbeit_am Glück_athenäum_1985_Wischenbart_Ueber_die_Beschwoerung_der_Ordnung_p45ff_opt

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